Praxis für systemische Einzel-, Paar- und Familientherapie

Die zwei Wölfe (Geschichte der Navajo-Indianer)
Ein Großvater saß mit seinem Enkel am Fluss und sagte zu ihm: Manchmal habe ich das Gefühl, dass in mir ein Kampf tobt – ein Kampf zwischen 2 Wölfen. Der eine Wolf ist böse. Er ist der Wolf des Zorns und des Neids und der Sorge.
Der andere Wolf ist gut. Er ist der Wolf der Freundlichkeit, Gelassenheit und des Vertrauens. Nachdem der Enkel eine Weile über die Worte seines Großvaters nachgedacht hatte, fragte er: Sag mir, welcher der beiden Wölfe wird nun gewinnen? Der alte Mann antwortete: Der, den ich füttere.

Selina, Pumpernickel und die Katze  – Vom Mut zur Angst (Susi Bodahl)
Hoch über den Dächern einer großen Stadt lebte Selina in ihrem kleinen Zimmer. Jeden Nachmittag machte sie es sich auf ihrem Bett gemütlich und träumte vom fernen Meer, von dunklen Wäldern und wilden Tieren.

Eines Nachmittags, mitten in ihrer Traumstunde, entdeckte sie ein kleines Mauseloch dicht am Boden! Am Tag zuvor war es noch nicht da gewesen. Selina wurde neugierig. Sie blieb ganz ruhig liegen und wartete gespannt, was nun geschehen würde.
Und es dauerte gar nicht lange, da trippelte ein kleiner Mäuserich heraus, setzte sich keck mitten ins Zimmer und begann, emsig sein Schnurrbärtchen zu putzen. Er war damit so beschäftigt, dass er Selina nicht bemerkte. Sie wollte aber bemerkt werden und rief ganz leise: „Hallo.“ Erschrocken hob der Mäuserich sein Köpfchen – doch als er sah, dass Selina ihm freundlich zulächelte, kam er ganz nahe an sie heran. Selina mochte Mäuse gerne, das spürte er sogleich.
„Ich möchte dich Pumpernickel nennen“, sagte sie, „wie gefällt dir dieser Name?“
„Oh, ganz ausgezeichnet“, antwortete er und machte drei hohe Sprünge mitten ins Zimmer. „Pumpernickel! Das passt gut zu mir!“ Vergnügt rieb er sich seine Spitznase und verschwand in seinem Mauseloch.

Am nächsten Abend stibitzte Selina heimlich aus der Küche ein großes Stück Käse und legte es vor das Mauseloch. Im Nu war Pumpernickel da und schnupperte daran. „Emmentaler! Das ist ja mein Lieblingskäse!“ freute er sich und knabberte ein großes Stück davon ab, dann noch ein Stück und noch ein Stück, bis nichts mehr übrig war. Dafür erzählte er Selina eine kleine Geschichte. Eine Geschichte von einem Mäusefest, auf dem eine kleine Mäusedame ganz herrlich tanzte. „Sie tanzte und tanzte“, schwärmte Pumpernickel, „bis sie tanzend davon schwebte und erst am nächsten Morgen wiederkam.“
Selina war von dieser Geschichte begeistert, und Pumpernickel musste sie an diesem Abend noch dreimal hintereinander erzählen.
Von nun an tauschten sie immer neue Geschichten gegen immer neue Emmentalerkäsestückchen, und sie hatten es schön zusammen.

Eines Abends aber wunderte sich Selina sehr, weil Pumpernickel nicht kam. Sie musste mehrmals nach ihm rufen, bis er endlich zaghaft aus seinem Mauseloch lugte. Er sah ganz verschreckt drein.
„Was ist los mit dir?“ fragte Selina besorgt. Pumpernickel deutete mit seinem Pfötchen zum Fenster hin und piepste aufgeregt: „Siehst du die große, unheimliche Katze nicht? Sie war heute schon einmal da! “ Tatsächlich saß da eine große Katze am Fenster und schielte mit großem Appetit zu Pumpernickel.
Es war Flora, die beste Mäusefängerin der Stadt. Schnell lief Selina zum Fenster und verjagte sie. „Und dass du mir ja nicht wiederkommst!“ rief sie ihr aufgeregt nach. Doch Flora kam wieder, gleich am nächsten Tag.
Lautlos sprang Flora zum Fenster herein und nahm Pumpernickel blitzschnell gefangen. So sehr er sich auch wehrte, es gelang ihm nicht, sich zu befreien. Da kam ihm in letzter Sekunde Selina zur Hilfe. Sie sprang auf Flora zu und rief: „Siehst du die dicke Taube dort auf dem Dach?“ Flora hörte „Taube“, wandte sich um und ließ dabei Pumpernickel los.
In diesem Augenblick griff Selina nach Pumpernickel und versteckte ihn in ihrer Schürzentasche. Das hatte Flora noch nie erlebt, dass man ihr die Beute vor der Nase wegschnappte, ihr, der besten Mäusefängerin der Stadt! Sie war wütend wie noch nie. „Gib mir sofort den Mäuserich zurück!“ fauchte sie.
„Ich denke nicht daran, dir meinen Freund auszuliefern!“ antwortete Selina und versuchte, Flora zu verscheuchen. Aber Flora ließ sich nicht vertreiben, im Gegenteil. Mit gefletschten Zähnen sprang sie auf Selina zu und stellte sich drohend vor sie hin. Ihre Augen funkelten vor Zorn.
Noch nie hatte Selina eine solch wilde Katze gesehen. Sie bekam Angst, so große Angst, dass sie schnell aus dem Zimmer rannte, die Treppe hinunter auf die Straße. Flora aber folgte ihr dicht auf den Fersen. Da fürchtete sich Selina noch mehr. Und je größer ihre Angst wurde, desto größer wurde auch die Katze hinter ihr.
Selina hörte das Tappen der Katzenpfoten hinter sich immer lauter werden. Als sie sich umschaute, sah sie, dass Flora gewachsen war. Sie war nun schon so groß wie ein Bernhardiner. Da wurde Selinas Angst noch größer, und sie lief immer schneller. Nach ein paar Schritten wandte sie sich wieder um. Flora war schon so groß wie ein Pferd! Nun rannte Selina, was sie konnte; da wurde Flora so groß, dass ihre Bartspitzen den Staub aus den Dachrinnen fegten und ihr Schwanz den Rauch der Schornsteine aufwirbelte.

Selina wagte nun nicht mehr, sich umzudrehen. Sie lief nur noch und lief die Straße hinunter, bis sie nicht mehr weiterkonnte. Sie musste stehen bleiben, um Luft zu holen.
Hinter ihr war es plötzlich still. Auch Flora war stehen geblieben. „Gib mir den Mäuserich zurück!“ hörte sie Flora fauchen, und der heiße Atem der Riesenkatze zerzauste ihr Haar. Zögernd wandte sie sich um. Zwei große, feurige Augen starrten sie an.
Selina war wie gelähmt. „Was soll ich tun?“ flüsterte sie verzweifelt und hielt ihre Hände schützend über ihre Schürzentasche. Da spürte sie, wie sich etwas darin regte, und sie hörte Pumpernickel piepsen: „Du musst Flora wieder klein machen!“
„Wie denn?“ rief Selina verzweifelt. „Ich habe doch solche Angst!“
„Eben, du denkst immer nur an deine Angst“, piepste Pumpernickel naseweis, „und rennst davon. Nur deine große Angst macht Flora so groß! Du musst gegen sie laufen und ihr fest in die Augen sehen!“ „Das schaffe ich nie“, stammelte Selina, „dazu fehlt mir der Mut.“
„Ach was! Mut hast du. Du musst es nur tun!“ piepste Pumpernickel und verschwand augenblicklich in der Schürzentasche, denn Flora fauchte jetzt ganz laut: „Gib mir endlich den Mäuserich!“
Selina zitterte, aber sie wusste, dass sie sofort etwas tun musste. Sie hielt den Atem an und machte einen Schritt auf die Riesenkatze zu. Dabei sah sie ihr fest in die Augen. Damit hatte Flora nicht gerechnet. überrascht wich sie zurück.
„Siehst du, es wirkt!“ triumphierte Pumpernickel in der Schürzentasche. „Geh nur weiter, immer weiter!“
Da machte Selina noch einen Schritt und dann noch einen Schritt auf Flora zu, den Blick unverwandt auf die großen Katzenaugen gerichtet. Und Flora wich abermals zurück. Mit jedem Schritt wurde Selina immer mutiger, und je mehr ihr Mut wuchs, umso kleiner wurde Flora.
Allmählich begann Selina zu laufen. Verwirrt tappte Flora rückwärts. Ihre Bartspitzen reichten nur noch bis zu den Dächern auf beiden Seiten der Straße.

Ich habe Mut, dachte Selina bei sich und beschleunigte ihre Schritte noch mehr. Immer kleiner wurde die Katze und bald streifte ihr Schnurrbart nicht einmal mehr die Fenster im ersten Stock der Häuser.
Obwohl Selina nun schon ein großes Stück gelaufen war, war sie nicht müde. Im Gegenteil. Ohne Unterlass rannte sie auf Flora zu und sah ihr unverwandt in die Augen. Manchmal blinzelte auch Pumpernickel über den Rand der Schürzentasche. Er wollte es keineswegs versäumen zu sehen, wie sich Flora immer mehr zurückzog und dabei immer kleiner wurde.
Bald war sie nur noch so groß wie ein Pferd, dann bloß noch so groß wie ein Bernhardiner. Schließlich fehlten nur noch ein paar Schritte, und Flora war so groß wie jede gewöhnliche Katze.
Da blieb Selina stehen. Auch Flora machte Halt. Unsicher blickte sie zu Selina auf. Sie fauchte nicht mehr. Eine Weile war es ganz still um sie herum, denn sie wussten nicht, was sie sagen sollten. Selina fasste sich als erste. „Nun mach, dass du fortkommst“, sagte sie bestimmt, „und lass künftig meinen Pumpernickel in Ruhe!“

Flora schüttelte ihr Fell zurecht, putzte die Schnauzhaare mit der Pfote und trollte sich erhobenen Schwanzes davon. Endlich, dachte Selina und sah ihr erleichtert nach. Nun, da die Gefahr vorüber und die Angst bewältigt war, konnte sie sich ausruhen. Sie setzte sich am Straßenrand nieder. Pumpernickel sprang aus der Schürzentasche und drehte sich vor Freude ein paar Mal im Kreise. Dank Selina war er ja am Leben und nicht in Floras Katzenbauch! Übermütig tanzte er um Selina herum und vollführte die köstlichsten Sprünge. Selina schaute ihm glücklich zu. Nach einer Weile hob sie Pumpernickel auf, steckte ihn in ihre Schürzentasche und machte sich gemächlich auf den Heinweg.
Es war schon spät geworden. Nur noch wenige Lichter brannten in den Fenstern, der Rauch qualmte müde aus den Schornsteinen, und die Nacht lag friedlich über den Dächern.
Oben in Selinas Zimmer gab es für Pumpernickel Emmentalerkäse, für Selina aber keine Geschichte. Dafür waren beide viel zu müde. Pumpernickel schlüpfte bald in sein Mauseloch, und Selina kuschelte sich in ihr Bett.

Draußen auf irgendeinem Dach saß Flora an einem Schornstein und leckte sich die Pfoten. Sie war nachdenklich gestimmt. Schließlich war es das erste Mal gewesen, dass sie einem Mäuserich vergeblich nachjagte. Pumpernickel war aber auch der einzige in der Stadt, der so sehr beschützt wurde! Und Flora beschloss, ihn von nun an für immer in Ruhe zu lassen.
So begann für Selina und Pumpernickel die schönste Zeit.

Die Geschichte vom Bäumchen (Agnes Rekkas-Kaiser)
Es war einmal ein Bäumchen, das irgendwann erst einmal ein Same war, der auf die Erde fiel, Wurzeln schlug, nach einiger Zeit einen Keimling trieb, das erste Blättchen ausstreckte und dann zu einem richtigen kleinen Baum heranwuchs; die Äste wild durcheinander und in alle Himmelsrichtungen. Das war die Zeit, in der es den Wind genoss, auch die Sonne, und sich das Leben einfach so nahm und sich keine Gedanken darüber machte, weshalb das alles so ist und wie es sich abspielt und warum es so und nicht anders ist.

Als das Bäumchen ein bisschen größer wurde, bemerkte es, dass es in einem Park aufwuchs, der nach ganz bestimmten Regeln geordnet und gepflegt wurde, und wo es nicht einfach so drauflos wachsen konnte, sondern wo es lebensnotwendig war, sich in bestimmte Formen und Figuren einzufügen. Und dass es nicht einfach erlaubt war, dass die Vögel in ihm Nester bauen konnten oder dass es im Herbst die bunten Drachen der Kinder mit seinen Ästen einfing, und dass die Kinder dann unter Lachen hinaufkletterten, um auf einem starken Ast zu schaukeln. Oder dass man sich besonders in die Richtung, wo die Sonne am wärmsten und schönsten und wohligsten schien, ausbreiten konnte, sondern, dass man für die Belange von anderen gefällig zu sein hatte.
Die aber hatten ganz andere Wertmaßstäbe, die den Bedürfnissen des kleinen Baums wenig entsprachen. Und so rückten eines Tages dann die Gärtner des Parks an. Und sie wollten eigentlich nichts Böses tun, sondern erledigten nur ihre Aufgabe, die sie gelernt hatten und die für sie ganz selbstverständlich war. So wurde das Bäumchen vermessen und für zu wild befunden, und sie lehrten das Bäumchen die Richtung, in die es zu wachsen hatte.
Dafür beschnitten sie die Äste, so dass es eine “ansehnliche” Form bekam, und sorgten dafür, dass das Bäumchen genau in das Bild passte. So tat es der künstlichen Anordnung des Parks keinen Abbruch und folgte einer bestimmten Ästhetik, die es gar nicht verstand. Aber notgedrungen und später sogar selbstverständlich machte es mit und verrenkte sich manierlich.

Erst einmal waren diese neuen Eingürtungen, Fixierungen und Beschneidungen natürlich unangenehm und das Bäumchen versuchte, sich zu wehren, aber das war aussichtslos…
Es weinte manch harzige Träne im Stillen, bevor es sich fügte.
Und so wurde es größer und größer und wuchs und wuchs und wurde ein schöner großer Baum, aber immer geprägt von den Ansichten und Wünschen anderer, und immer, wenn die Jahreszeit kam, die Bäume herzurichten, zu pflegen – wie man sagte – und zu beschneiden, dann kriegte der Baum wieder seine richtige Fasson.

Eines Tages aber geschah etwas Verwunderliches: die Herrschaften des Parks verließen die Anlage, zogen aus, räumten das Feld und trollten sich und damit auch die lästigen Gärtner, und der Park war sich selbst überlassen.

Das Unkraut schoss ganz unverschämt, die Hecken schlugen aus, die Skulpturen kleideten sich kess mit Moos in frechem Grün, die Bäume balgten sich albern auf einer Wiese, die war chaotisch von Maulwürfen mit Haufen verziert. Eine überaus wilde Gesellschaft …. !
Nur unser Baum, der besonders schön und groß und prächtig war und der auch auf sich achtete, konnte nicht so mittun, wollte auch nicht, hatte höhere Ziele – und das war auch gut so.
Und es blieb einige Zeitlang gut so. So entwickelte er einen mächtigen Stamm, dicke, tragfähige Äste und erlebte so einige Sommer und Winter, bis er irgendwann verspürte, dass er doch noch andere Regungen in sich hatte, die er eigentlich gerne mochte, die von ganz früher …
Und da stellte sich die große Frage: Wie konnte er diese seine Stärken wieder nutzen, die so lange geschlafen hatten, wie sie wieder zum Leben erwecken? Und wo in der Größe des Baumes waren sie gelagert, in den Blättern, in den Ästen, im Stamm, in den Wurzeln? Und wenn man an die vielen Jahresringe denkt, die der Baum inzwischen hatte, waren sie wohl in einem der inneren gewesen.
Und der Baum machte nun folgendes: In der Tiefe der blauschwarzen Nacht – ganz unverständlich, wenn man das von außen betrachtete und nicht wusste, worum es ging – drehte er seine Blätter um, so dass das Untere nach oben schaute – und in diese Blätter, die aussahen wie Hunderte von kleinen Schalen, ließ er all diese ganz bitteren Erfahrungen hineinfließen, all die Begrenzungen, die ungemäßen Bindungen, die achtlosen Worte der Gärtner, ihre vielen unrechtmäßigen Einmischungen in sein Leben, all die geweinten Tränen. All dies ließ der Baum in seine Blätter hineinfließen, in die Blätterschalen – auch die Zwänge und die Fesseln und all die dummen Beschneidungen seiner Kraft und seiner Fähigkeiten und seines ursprünglichen Wachstums, seine wehmütigen Gefühle … all das ließ der Baum in seine Blätter hineinfließen, eines Nachts … Und dann, was machte er dann?
Er fiel in einen tiefen Schlaf und vielleicht, ohne dass er es direkt bemerkte, floss noch diese oder jene Träne aus ihm heraus.
Die Nacht wurde geheimnisvoll und still, während der Baum zur Ruhe ging.

Da passierte etwas Eigenartiges, ganz von alleine, ohne dass der Baum das machte, das machten die Blätter. Sie wendeten sich von alleine in einer lautlosen Bewegung, in langsamen, kleinen langsamen, ruckartigen Bewegungen …
Die Blätter drehten sich wieder in ihre natürliche Position und entleerten sich, so dass ganz automatisch, von alleine der Inhalt heraus floss.
Und drehten sich und drehten sich in der Dunkelheit der Nacht, und keiner merkte es. Nur der Baum fühlte ein leichtes Wehen in seiner Krone …, so als ob er tief atmete, so als wenn er die Wurzeln noch tiefer in die Erde streckte, um besser Nahrung tanken zu können.
Und es rutschte heraus.

Als langsam die Dämmerung kam und der Morgen graute, die ersten Sonnenstrahlen den Baum wieder vorfanden, hatte sich etwas getan: Der Baum wirkte üppiger, der Stamm kräftiger, stärker, voluminöser.

Und der erste Vogel kam, ließ sich nieder und trällerte sein frühes Lied …
Er sangt dem Baum vom Leben – und der Baum verstand…

Frederik (Leo Lonni)
Rund um die Wiese herum, wo Kühe und Pferde grasten, stand eine alte Steinmauer. In dieser Mauer – nahe bei Scheuer und Kornspeicher – wohnte eine Familie schwatzhafter Feldmäuse. Aber die Bauern waren weggezogen, Scheuer und Kornspeicher standen leer. Und weil es bald Winter wurde, begannen die kleinen Feldmäuse Körner, Nüsse, Weizen und Stroh zu sammeln. Alle Mäuse arbeiteten Tag und Nacht. Alle – bis auf Frederick.

„Frederick, warum arbeitest du nicht?“, fragten sie. „Ich arbeite doch“, sagte Frederick, „ich sammle Sonnenstrahlen für die kalten, dunklen Wintertage.“
Und als sie Frederick so dasitzen sahen, wie er auf die Wiese starrte, sagten sie: „Und nun, Frederick, was machst du jetzt?“ – „Ich sammle Farben“, sagte er nur, „denn der Winter ist grau“. Und einmal sah es so aus, als sei Frederick halb eingeschlafen. „Träumst du, Frederick?“ fragten sie vorwurfsvoll. „Aber nein“, ich sammle Wörter. Es gibt viele lange Wintertage, und dann wissen wir nicht mehr, worüber wir sprechen sollen.“
Als nun der Winter kam und der erste Schnee fiel, zogen sich die fünf kleinen Feldmäuse in ihr Versteck zwischen den Steinen zurück. In der ersten Zeit gab es noch viel zu essen, und die Mäuse erzählten sich Geschichten über singende Füchse und tanzende Katzen. Da war die Mäusefamilie ganz glücklich!

Aber nach und nach waren fast alle Nüsse und Beeren aufgeknabbert, das Stroh war alle, und an Körner konnten sie sich kaum noch erinnern. Es war auf einmal sehr kalt zwischen den Steinen der alten Mauer, und keiner wollte mehr sprechen. Da fiel ihnen plötzlich ein, wie Frederick von Sonnenstrahlen, Farben und Wörtern gesprochen hatte. „Frederick!“, riefen sie, „was machen deine Vorräte?“ – „Macht die Augen zu“, sagte Frederick und kletterte auf einen großen Stein. „Jetzt schicke ich euch die Sonnenstrahlen. Fühlt ihr schon, wie warm sie sind? Warm, schön und golden?“ Und während Frederick so von der Sonne erzählte, wurde den vier kleinen Mäusen schon viel wärmer. Ob das Fredericks Stimme gemacht hatte? Oder war es ein Zauber?
„Und was ist mit den Farben, Frederick?“, fragten sie aufgeregt. „Macht wieder eure Augen zu“, sagte Frederick. Und als er von blauen Kornblumen und roten Mohnblumen im gelben Kornfeld und von grünen Blättern am Beerenbusch erzählte, da sahen sie die Farben so klar und deutlich vor sich, als wären sie aufgemalt in ihren kleinen Mäusekörpern.
„Und die Wörter, Frederick?“ Frederick räusperte sich, wartete einen Augenblick, und dann sprach er wie von einer Bühne herab:

„Wer streut die Schneeflocken? Wer schmilzt das Eis?
Wer macht lautes Wetter? Wer macht es leis?
Wer bringt den Glücksklee im Juni heran?
Wer verdunkelt den Tag? Wer zündet die Morgenlampe an?
Vier kleine Feldmäuse wie du und ich
Wohnen im Himmel und denken an dich.
Die erste ist die Frühlingsmaus, die lässt den Regen lachen.
Als Maler hat die Sommermaus die Blumen bunt zu machen.
Die Herbstmaus schickt mit Nuss und Weizen schöne Grüße.
Pantoffeln braucht die Wintermaus für ihre kalten Füße.
Frühling, Sommer, Herbst und Winter sind vier Jahreszeiten.
Keine weniger und keine mehr. Vier verschiedene Fröhlichkeiten.“

Als Frederick aufgehört hatte, klatschten alle und riefen: „Frederick, du bist ja ein Dichter!“ Frederick wurde rot, verbeugte sich und sagte bescheiden: „Ich weiß es – ihr lieben Mäusegesichter!“

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Ich verzichte auf alle Weisheit, die nicht weinen, auf alle Philosophie, die nicht lachen, auf alle Größe, die sich nicht beugen kann – im Angesicht von Kindern.

Khalil Gibran

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Maria Schulze Oechtering
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Milton-Erickson-Institut Heidelberg

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Wieslocher Institut für systemische Lösungen

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www.nlp-trainings-tille.de
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www.haeuser-der-hoffnung.org
siehe auch: Malidoma Patrice Somé: Vom Geist Afrikas

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